Jürgen Goertz

1962 Studium an der Werkkunstschule Hannover. 1963 – 66 Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie Karlsruhe bei Wilhelm Loth. Seit 1975 zahlreiche wichtige Aufträge für die Kunst im öffentlichen Raum. Lebt und arbeitet in Angelbachtal-Eichtersheim.

 

Kuh-riosum 1987, Bronze, Stahl, Kronenplatz

Die Proportionen des Brunnens und seine Funktion als beherrschendes Zentrum des Kronenplatzes erinnern an historische Platzanlagen mit dominierendem zentralen Denkmal. Wie Jürgen Goertz diesen historischen Typus unserer Zeit anverwandelt, hat dann allerdings etwas erfrischend Respektloses:
Statt eines klassischen Denkmalsockels findet eine überdimensionierte Milchkanne Verwendung, und statt einer pathetischen Standfigur oder eines berittenen Feldherren balanciert oben ein Mischwesen, das lebendige Kreatur und Maschine zugleich ist. Realistische Details wie etwa der Schwanz oder das provokativ hochgeschwungene Euter sind mit gänzlich technoiden Elementen kombiniert. So ist der eigentliche Körper der Kuh aus einzelnen Schichten zusammengesetzt, die wie ausgestanzt wirken. Als Gelenke der Beine dienen mächtige Scharniere. Diesen Einzelelementen heterogener Herkunft entspricht eine kühne Kombination unterschiedlichster Materialien. Neben der – durch die Tradition als klassischer Werkstoff der figürlichen Plastik sanktionierten – Bronze finden Chromstahl und Chrom Verwendung. Die berflächen dieser Werkstoffe werden zusätzlich noch unterschiedlich bearbeitet. Die großen hyperrealistischen Augen aus Kunstharz, die vergoldeten Hörner und der farbige Stabkranz, in dem die Kuh steht, setzen weitere Akzente. Mit seiner Arbeit verweist Jürgen Goertz auf Fehlentwicklungen im Verhältnis des modernen Menschen zu seinen vierbeinigen Mitgeschöpfen. Sie gelten uns heute nur noch als beliebig verfügbare und manipulierbare Rohstoffoder Lebensmittellieferanten.

Turm der grauen Pferde, 1993, Aluminium, Hillerplatz

Wie das untere Ende der Hauptstraße durch das „Kuh-riosum" wird auch die obere Altstadt durch ein Werk von Jürgen Goertz geprägt. Eine vielteilige Platzgestaltung erfüllt dabei zwei wichtige stadtplanerische Aufgaben. Sie bildet den Fluchtpunkt und Abschluss der oberen Hauptstraße, die seit dem Abriss des Obertorturmes im Jahre 1824 gefehlt haben, und sie verbindet die eher heterogenen Bauten um den Platz zu einem geschlossenen Ensemble. Dominierendes Element der Platzanlage ist der rund 11 Meter hohe Pferdeturm. Mit der mattschimmernden Oberfläche des geschliffenen Aluminiums stellt er eine markante Eingangspforte zur oberen Altstadt dar. Die Platzgestaltung von Jürgen Goertz weist die für den Künstler charakteristischen Merkmale auf, wie sie bereits vom „Kuhriosum" oder von anderen Arbeiten des Künstlers für den öffentlichen Raum vertraut sind. Auch hier findet sich ein breites Spektrum unterschiedlich behandelter Oberflächen. Das Aluminium wurde großflächig geschliffen, zum Teil aber auch poliert, vergoldet oder mit schwarzer Farbe behandelt. Auch hier sind realistische Partien mit abgegossenen Fundstücken und abstrakt-geometrischen Elementen kombiniert, die in diesem Fall aus der Architektur kommen. Eine Vielzahl plastischer Details stellt die unterschiedlichsten inhaltlichen Bezüge her. Die vier im Turm übereinander gestellten und in der Größe jeweils halbierten Pferde spielen auf das große Volksfest der Stadt und damit den traditionellen Höhepunkt des Jahreslaufs an: auf dem Bietigheimer Pferdemarkt. Die übereinandergesetzten Rundbogenarkaden sind als Hommage an Karl von Etzels grandioses Eisenbahnviadukt über die Enz aus dem Jahr 1853 zu sehen. Der Künstler selbst betont daneben auch die Bezüge zu zwei Hauptwerken der modernen Malerei – zu Franz Marcs verschollenem „Turm der blauen Pferde" von 1913 und zu Paul Klees „Aufstand des Viadukts" von 1937. Die großen Reliefmedaillons an den Flanken der Pferde zeigen weibliche Porträts und stehen für die alten Erdteile. Von unten nach oben entdeckt der Betrachter eine Afrikanerin, eine Europäerin, eine Hopi-Indianerin und schließlich eine Asiatin. Die kleinen Reliefmedaillons auf der Brustpartie der Pferde, für die der Künstler zum Teil fossile Knochen abgegossen hat, spielen auf die Frühgeschichte der Menschheit an.

Figurenschmuck der Villa Visconti 2003, Hillerplatz

Nachdem Jürgen Goertz schon mit seinem „Turm der grauen Pferde" und der zugehörigen Platzgestaltung dem Hillerplatz und der oberen Hauptstraße seinen Stempel aufgedrückt hatte, trug er schließlich auch ganz entscheidend zu dem Gebäude der „Villa Visconti" bei, das den Platz nach Süden hin abschließt. In enger Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Architekten Jo Frowein entstand ein ungewöhnlicher Bau mit Klinkerfassade, an dessen Sonderstellung in der zeitgenössischen Architektur der Skulpturenschmuck, der das Haus nicht nur außen ziert, maßgeblichen Anteil hat. Architekt und Bildhauer zielten eindeutig auf ein postmodernes Gesamtkunstwerk und bezogen sich in ihren Äußerungen ausdrücklich auf Vorbilder in der Kunstgeschichte bis zurück in die Renaissance. Auffälligstes Merkmal sind die von Jürgen Goertz geschaffenen zahllosen Medaillons mit Porträts aber auch anonymen Köpfen in unterschiedlichen Relieftechniken. Der Betrachter entdeckt unter den Porträtierten nicht nur die namengebende Mailänder Herzogstochter Antonia Visconti, die Ende des 14. Jahrhunderts maßgeblich zur Entwicklung Bietigheims zur Stadt beitrug, sondern einen bunten Querschnitt von historischen Gestalten aus den verschiedensten Bereichen sowie Personen der Zeitgeschichte. So haben an der Fassade zum Hillerplatz zum Beispiel Christoph Columbus und Charlie Chaplin ebenso ihren Platz wie der britische Mathematiker Stephen Hawking oder die Geigerin Anne-Sophie Mutter.